Jochen Schweitzer liest aus seinen Aufsätzen zum Nationalsozialismus

Jochen Schweitzer liest in Eschwege aus seinen Aufsätzen zum Nationalsozialismus. ER will, dass das Thema im Gespräch und der Auseinandersetzung bleibt.
Eschwege – Der gebürtige Eschweger Jochen Schweitzer hat sich die Akten aus dem Entnazifizierungsverfahren seines Vaters angesehen. 250 Seiten. „Ich wollte wissen, was damals passiert ist“, sagt er. Den Mut dazu und den Willen haben nicht viele, schließlich geht es auch um Schuld. Die meisten Leute wollten das Thema deshalb nach 1945 verdrängen und nicht mehr darüber sprechen, beklagt der Autor.
Weiße Flecken
Schweitzer hat sich zehn Jahre intensiv mit seiner Familiengeschichte befasst, und mit der Geschichte Eschweges im Dritten Reich und der Erinnerung an die Gräueltaten nach dem Krieg. Er hat mehrere Forschungsartikel für die Eschweger Geschichtsblätter geschrieben und jetzt, zu seinem 80. Geburtstag, seine Aufsätze in einem Band zusammengefasst, seinem Vermächtnis. „Von weißen Flecken und grauen (-haften) Funden“, heißt der Sammelband. Bei einer Lesung in der Buchhandlung Heinemann griff er einige Themen auf und suchte den Dialog.
Würdigung
Etwa über die 300 Männer, die damals als sogenannte „Schutzhaftgefangene“ im Eschweger Gefängnis saßen und geschlagen, gefoltert und mit dem Tod bedroht wurden, weil sie ihren Widerstand gegen die Machtergreifung der Nazis zum Ausdruck gebracht hatten. „Ich habe den Artikel auch geschrieben, um diese mutigen Männer und ihre Taten zu würdigen“, sagt der Autor. „Sie sind Vorbilder!“ Stattdessen gelte die Mär, dass Eschwege damals quasi widerstandslos „braun“ geworden sei. Dass dieses Thema nicht gewürdigt werde, erschüttere ihn.
In Frankershausen hat er mit den Nachfahren von Eduard Schäfer gesprochen, der wegen seines Widerstands in eben jener angeblichen „Schutzhaft“ saß. Aber auch dort, wurde ihm berichtet, das gleiche Bild: Die Leute im Dorf wollten nicht über das Thema sprechen, sie schweigen, solange die Täter noch am Leben und unter ihnen sind. Wie in Eschwege sind es Nachbarn und Geschäftspartner. Wie damit umgehen?
„Cancel Culture“
Einer, den Jochen Schweitzer zu Unrecht ins Zentrum der Anklage gesetzt sieht, ist Fritz Neuenroth, ehemaliger Eschweger Lehrer. Die nach ihm benannte Straße wurde umbenannt. „Das ist nicht nur unfair, sondern auch ungerecht“, sagt Jochen Schweitzer, der selbst Schüler von Neuenroth war. In Neuenroths Biografie habe man sich einzelne Element herausgepickt, meint er. Neuenroth konnte sich nicht wehren, denn er hatte keine Nachfahren. „Andere, viel prominentere Nazis haben ihre Straße aber behalten“, sagt er. Der Autor spricht sich gegen „Cancel Culture“ aus. Für ihn sei es die schlechteste Form der Aufarbeitung, denn mit dem Abnehmen des Namens sei die Diskussion beendet. „Man sollte lieber einen Hinweis anbringen“, findet er. „Die Frage ist nur, ob die Politik diesen Streit führen will?“
Diskussion
In der Diskussion mit dem Publikum wird auch seine Sorge deutlich. Der Mahner ist 80 Jahre alt geworden, wer tritt seine Nachfolge an? Wer nimmt sich des Themas heute an? Oder solle es mit dem Argument, man habe sich ja damit beschäftigt, ad acta gelegt werden?
Dr. Annika Spilker, Leiterin des Eschweger Stadtarchivs, widerspricht. Anknüpfend an die historische Studie von Professor Dr. Winfried Speitkamp „Eschwege: Eine Stadt und der Nationalsozialismus“, laufe gerade eine zweite Studie zur Aufarbeitung der Geschichte in den 1950er-Jahren. Jochen Schweitzer hat Eschwege nach der zweiten Schulklasse verlassen, lebt nun in Münster. Sei es einfacher, wenn man die historischen Ereignisse aus der Distanz beurteilen kann, als wenn man selbst Teil der Stadtgesellschaft sei?, fragt eine Frau aus dem Publikum. Die Distanz schaffe sicherlich einen anderen Blickwinkel, sagt Jochen Schweitzer. (Kristin Weber)
