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Richterin urteilt - Polizei erkannte Schlaganfall nicht

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Von: Christina Hein

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Muss das Sprechen wieder erlernen: Logopädin Hanna Kleine (links) übt mit Schlaganfall-Patientin Monika Harmes-Lipera, sich mündlich auszudrücken.
Schlaganfall bei Polizei in Kassel erlitten und niemand hilft. Muss das Sprechen wieder erlernen: Logopädin Hanna Kleine (links) übt mit Schlaganfall-Patientin Monika Harmes-Lipera, sich mündlich auszudrücken. © Christina Hein

Rentnerin kommt trotz Schlaganfall in Polizeigewahrsam. Sie wird für betrunken gehalten und erhält keine Hilfe. Jetzt urteilte eine Richterin.

Haben die Polizisten, die sich im Juni 2017 in Kassel einer orientierungslos umherirrenden Frau annahmen, genug getan, um der Seniorin nach einem Schlaganfall zu helfen? 

Mit dieser Frage beschäftigte sich jetzt Richterin Sabine Eymelt-Niemann vor dem Kasseler Landgericht.

Wie sich herausstellte, hatte die Klägerin, Monika Harmes-Lipera, einen Schlaganfall erlitten. Die schweren gesundheitlichen Folgen, an denen sie heute leidet, hätten verhindert werden können, wäre sie früher medizinisch versorgt worden, so ihr Vorwurf. Stattdessen war sie über mehrere Stunden von der Polizei in Kassel in Gewahrsam genommen worden, zuletzt in einem verschlossenen Raum.

Schmerzensgeldforderung am Landgericht Kassel:

Schlaganfall-Patientin will Gerechtigkeit 

Aus diesem Grund verklagte Monika Harmes-Lipera stellvertretend für die beteiligten Bundespolizisten die Bundesrepublik Deutschland und für die Landespolizisten, das Land Hessen auf Schmerzensgeld. Doch Richterin Eymelt-Niemann wies die Klage nach ausführlicher Zeugenbefragung ab und entschied: „Eine Pflichtverletzung ist nach der Beweisaufnahme nicht festgestellt worden.“

Dass die Frau einen Schlaganfall erlitt, war ein Vorfall in Kassel, der sich den Beteiligten offenbar eingeprägt hatte. „Ja, ich erinnere mich gut an Frau Harmes-Lipera“, sagten zwei der vier befragten Polizisten. Und das obwohl, wie einer der Beamten des Kasseler Reviers Süd-West in Baunatal, aussagte, das Aufgreifen von orientierungslosen älteren Menschen für die Polizei zum Tagesgeschäft gehöre. Die meisten seien dement und häufig aus einem Heim ausgebüxt. Manchmal würden sie bereits gesucht. Wenn ihre Identität nicht festzustellen sei, müssten telefonisch die Heime abgeklappert werden, ob ein Bewohner abgängig sei.

Gericht: Die Schlaganfall-Patientin Frau Hames-Lipera klagt wegen unterlassener Hilfeleistung 

Das sei auch im Fall von Monika Harmes-Lipera geschehen, berichteten die Polizisten übereinstimmend, denn die Frau hatte keinerlei Ausweispapiere bei sich. Sprechen konnte sie nicht und beim Schreiben sei nur unleserliches Gekrakel herausgekommen.

Doch das hatte niemanden bei der hessischen Polizei in Kassel aufhorchen lassen. Die Frau habe sich sicher auf den Beinen bewegt: über Treppenstufen und hohe Bordsteinkanten, wie die Polizisten unisono schilderten. Sie habe sich bei allen Fahrten im Auto ohne Zögern angeschnallt – was allen Zeugen ebenfalls wichtig war zu betonen. Es sei nicht erkennbar gewesen, dass sie einen Schlaganfall hatte.

Harmes-Lipera war seinerzeit gegen 10 Uhr mit der Tram auf dem Weg zum Fernbahnhof. In der Straßenbahn müsse sie den Schlaganfall erlitten haben, rekonstruierte ihre Tochter, die als rechtliche Betreuerin und „Übersetzerin“ vor Gericht in Kassel erschienen war, den medizinischen Vorfall. Beim Umsteigen in eine andere Tram war der damals 69-Jährigen der Koffer mit Papieren abhandengekommen.

Landgericht Kassel: Klage der ehemaligen Krankenschwester zurückgewiesen

Danach begann für Harmes-Lipera, einer ehemaligen Krankenschwester, eine Odyssee mit Leibesvisitationen („Ich wollte nachgucken, ob sich in der Wäsche eingenähte Hinweise auf ihre Identität befanden“, erklärte eine Polizistin) und zuletzt vier Stunden langem Ausharren hinter verschlossener Tür auf dem Polizeirevier in Baunatal bei Kassel.

Als die Beamten sie am späten Nachmittag nach Kassel in ein Heim bringen wollten, erkannte Harmes-Lipera die Wohngegend ihrer Tochter in Zwehren wieder und konnte sich den Polizisten irgendwie verständlich machen. 

Ein Strafverfahren wegen des Verdachts auf unterlassene Hilfeleistung war von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Jetzt ist auch die Zivilklage abgelehnt worden. Doch Harmes-Lipera will nicht aufgeben, sondern mit Anwältin Silke Schelkmann in Berufung gehen.

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Eine Gefangene in ihrer eigenen Wohnung: Weil der Fahrstuhl in ihrem Haus seit sechs Wochen defekt ist, ist die 86-jährige Elfriede Dilcher, die an den Rollstuhl gefesselt ist, in ihrer Wohnung gefangen.

Letztes Jahr (2019) wird in Kassel festgestellt, dass es immer mehr Schlaganfälle gibt: Die Zahl der neurologischen Erkrankungen steigt dramatisch.* Das sagen Chefärzte und Klinikdirektoren von Kasseler Kliniken. Die Zahl der Patienten könne sich demnach verdoppeln.

*hna.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.

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