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Michel Friedman zum Anschlag in Halle: „Geistige Brandstiftung wird zum Alltag“

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Von: Claus-Jürgen Göpfert

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Michel Friedman: „Wir alle sind aufgerufen, uns in unserem Alltag der rechtsextremen Bedrohung entgegenzustellen.“
Michel Friedman: „Wir alle sind aufgerufen, uns in unserem Alltag der rechtsextremen Bedrohung entgegenzustellen.“ © picture alliance / Boris Roessler

Michel Friedman zum Kampf gegen rechts nach dem Anschlag in Halle. Solidarität, sagt der Publizist, dürfe nicht nur Ritual sein.

Herr Friedman, hat Sie der Anschlag in Halle an der Saale überrascht?
Nein. In den zurückliegenden Monaten hatten der Bundesinnenminister und die Landesämter für Verfassungsschutz bereits darauf hingewiesen, dass der Rechtsextremismus zur größten Gefahr der Inneren Sicherheit in Deutschland geworden ist.

Um so mehr erstaunt es doch, dass die Synagoge in Halle am höchsten jüdischen Feiertag nicht von Polizeikräften gesichert war.
Es ist unentschuldbar, dass es nicht an jedem jüdischen Gotteshaus, erst recht am wichtigsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, dem Versöhnungsfest, Polizeipräsenz gegeben hat. Das hätte es unbedingt geben müssen. Entweder man nimmt die Bedrohungslage ernst oder nicht. Dazwischen gibt es nichts.

Wie verändert sich das Leben der Menschen der Jüdischen Gemeinde?
Seit Jahrzehnten wachsen die jüdischen Kinder in Frankfurt damit auf, dass ihre Kindergärten, ihre Schulen von Polizisten mit Maschinenpistolen geschützt werden. Es ist natürlich gut, dass es diesen Schutz gibt. Aber was macht das mit den Kindern? Mindestens unterbewusst nehmen sie wahr: Jude sein in Deutschland ist gefährlich. Ich finde das kein gutes Gefühl für junge Menschen. Es gibt doch schon lange die Frage: Kann ich es noch riskieren, mit der Kippa durch die Stadt zu laufen? Oder habe ich einfach Angst, das zu tun? Wir erleben eine Eskalation von Gewalt, wir sind mittendrin.

Michel Friedman: „Wir müssen den geistigen Klimawandel zum Thema machen“

Werden jetzt wieder mehr Menschen der Jüdischen Gemeinde überlegen, ob sie Deutschland verlassen?
Natürlich stellt sich für Jüdinnen und Juden die Frage: Ist mein Leben in Deutschland noch sicher? Und lebenswert. Und was wird mit meinen Kindern sein? Wir diskutieren zu Recht, dass der Klimawandel eines der dringendsten Zukunftsthemen ist, aber die Demokratie ist nicht nur, aber auch in Deutschland gefährdet. Geistige Brandstiftung wird zum Alltag. Deshalb müssen wir auch den geistigen Klimawandel in diesem Land zum zentralen Thema machen, zu einem Schwerpunkt der Politik. Natürlich sorgt der Anschlag von Halle für große Besorgnis und Unsicherheit bei den jüdischen Menschen, aber hoffentlich nicht nur bei ihnen. Der Anschlag galt uns allen. Wir müssen uns klarmachen: Wenn die Sicherheitstechnik der Tür der Synagoge nicht standgehalten hätte, dann hätten wir es mit 60 Leichen zu tun.

Das ist eine neue Dimension der Gewalt.
Das ist eine Verrohung des Handelns. Wir sind enthemmt in Deutschland. Jedes Wochenende fällt bei den Fußballspielen, zumindest von der Zweiten Bundesliga abwärts, das Schimpfwort von der Judenmannschaft. Friedhofsschändungen sind zum Alltag geworden. Beleidigungen und Körperverletzungen ebenfalls.

Michael Friedman: „Die Würde des Menschen ist in Deutschland wieder antastbar“

Die Bundeskanzlerin ist noch am Abend des Anschlagtages zur Jüdischen Gemeinde in Berlin gegangen. Ist solche konkrete Solidarität jetzt wichtig?
Ich halte diese Solidarität für sehr wichtig. Aber Solidarität darf nicht nur Selbstzweck, nicht nur Ritual sein. Ohne Handeln bleibt sie wirkungslos. Es ist wichtig, dass jeder bei der Solidarität bei sich selbst beginnt. Wir müssen den Mut haben, zu widersprechen, wenn öffentlich judenfeindliche und menschenfeindliche Hetzreden am Stammtisch gehalten werden. Wir müssen uns klarmachen: Die Würde des Menschen ist in Deutschland wieder antastbar. In unserer Demokratie ist eine rote Linie überschritten.

Sie waren selbst mit Ihren Söhnen in der Synagoge an diesem höchsten jüdischen Feiertag. Die Gefahr für alle jüdischen Gotteshäuser wird jetzt weiter wachsen.
Jüdische Einrichtungen sind schon seit Jahrzehnten gefährdet. Christliche Kirchen sind es nicht. Das nur zum Stichwort Normalität. Daran will ich mich nicht gewöhnen.

Was muss jetzt geschehen?
Vieles. Und das sofort. Und das nachhaltig. Wir müssen uns darüber klar werden: Die Stabilität unserer Demokratie ist in Gefahr. Wir alle sind gefordert. Es gibt drei Kernthemen in unserer Gesellschaft: die soziale Gerechtigkeit, der Klimawandel und die Gefahr von rechts. Wir alle sind aufgerufen, uns in unserem Alltag der rechtsextremen Bedrohung entgegenzustellen. Im Verein, im Beruf. Wir müssen in der Praxis um unsere Demokratie kämpfen.

Interview: Claus-Jürgen Göpfert

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