Warum Menschen Impfungen ablehnen – und wie man sie umstimmen kann

Die Überzeugungen der Impfgegner sind stark vom kulturellen und sozialen Kontext abhängig. Zwei in den USA durchgeführte Studien haben Folgendes ergeben.
- Wer die Corona*-Impfmüdigkeit in den wohlhabenderen Ländern als neues Phänomen betrachtet, vernachlässigt den Aufstieg einer Anti-Impf-Stimmung weltweit in den vergangenen Jahrzehnten.
- Denn Impfskepsis müssen wir als ein emotionales, soziales und kulturelles Problem verstehen.
- Sozialwissenschaftler aus der ganzen Welt müssen zusammenarbeiten, um die Ursachen für die Impfzurückhaltung zu ermitteln.
- Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 18. Dezember 2021 das Magazin Foreign Policy.
Bis Anfang Dezember wurden weltweit etwa 8,5 Milliarden Dosen des COVID-19-Impfstoffs verabreicht. Damit ist die COVID-19-Impfung die mit Abstand größte Maßnahme im Bereich der öffentlichen Gesundheit in der Geschichte – und doch nur mit gemischtem Erfolg. Den am stärksten gefährdeten Ländern der Welt wird ihr fairer Anteil an Impfdosen vorenthalten, während in den wohlhabenderen Ländern das Hauptproblem nicht der Zugang, sondern die Zögerlichkeit ist, die sich oft auf bestimmte Regionen mit einer Anti-Impf-Stimmung konzentriert. Das ostdeutsche Bundesland Sachsen beispielsweise hat eine Impfquote von nur etwa 56 Prozent und eine mehr als doppelt so hohe Infektionsrate wie Deutschland insgesamt.
Ein Großteil der Diskussion über die Zurückhaltung gegenüber dem COVID-19-Impfstoff konzentrierte sich darauf, wie sehr sich der COVID-19-Impfstoff von anderen Impfstoffen unterscheidet – beispielsweise wurde kein anderer Impfstoff so schnell entwickelt. Wer jedoch die COVID-19-Impfmüdigkeit als ein neues Phänomen betrachtet, vernachlässigt den kometenhaften Aufstieg einer breiteren Anti-Impf-Stimmung weltweit in den vergangenen Jahrzehnten.
Warum Menschen Impfungen ablehnen – und wie man sie umstimmen kann
Es gibt wohl kein besseres Beispiel dafür als die Masernimpfung. Da es sich bei Masern um eine außerordentlich ansteckende Krankheit handelt, ist eine Impfquote von etwa 95 Prozent erforderlich, um eine Herdenimmunität zu erreichen – einen Punkt, an dem die Krankheit nicht mehr frei in der Bevölkerung zirkulieren kann. Im Jahr 1978, ein Jahr bevor die erste Dosis des Masernimpfstoffs in Rumänien eingeführt wurde, erkrankten 540 von 100.000 Menschen an Masern. Bis zur Jahrtausendwende waren 96 Prozent der Kinder geimpft, und die Inzidenz in Rumänien* war auf 0,16 pro 100.000 Menschen gesunken – ein enormer Erfolg, der sich sehen lassen kann.
Doch dann begannen die Impfquoten gegen Masern zu sinken. Im Jahr 2017 waren es bei der ersten Dosis nur noch 86 Prozent und bei der zweiten Dosis 75 Prozent der Bevölkerung, und Rumänien befand sich wie ein Großteil Europas in einer jahrelangen Epidemie. Im Jahr 2018 gab es europaweit 83.540 Fälle von Masern, verglichen mit 5.273 nur zwei Jahre zuvor.
In Fällen wie dem rumänischen, in dem die Impfquoten zunächst hoch sind und dann zurückgehen, ist nicht der Zugang zu Impfstoffen das Problem, sondern die Zurückhaltung beim Thema Impfungen. In Italien* beispielsweise kam es in den Jahren 2017 bis 2019 ebenfalls zu Masernausbrüchen, die auf eine ähnliche Impflücke zurückzuführen sind. Die demografischen Muster der Fälle bei solchen Ausbrüchen unterstreichen die Rolle der Impfverweigerung: 78 Prozent der Fälle bei einem Masernausbruch in New York im Jahr 2013 betrafen Kinder, die nicht geimpft waren, weil ihre Eltern die Impfung verweigerten oder absichtlich verzögerten.
Corona-Impfungen: Blick auf die Geschichte – Impf-Skepsis und psychologische und kulturelle Gründe
Impfzurückhaltung mag wie ein Nischenverhalten erscheinen – einige Untersuchungen legen nahe, dass sich nur acht Prozent der Amerikaner zuverlässig als „Anti-Vaxxer“ bezeichnen –, aber es ist ein etabliertes Thema im Bereich der öffentlichen Gesundheit, und wird es bleiben. Fast ein Jahr vor dem Auftauchen von COVID-19* bezeichnete die Weltgesundheitsorganisation die Impfskepsis als eine der zehn größten Bedrohungen für die globale Gesundheit. Die Ausrottung von Krankheiten wird erst dann möglich sein, wenn wir die komplexen psychologischen und kulturellen Gründe verstehen, die einer impffeindlichen Haltung zugrunde liegen.
Beginnen wir mit den psychologischen Aspekten. Die Impfung ist psychologisch gesehen kontraintuitiv. Menschliches Verhalten wird stark durch Belohnungen motiviert – insbesondere durch sofortige und greifbare Belohnungen, die starke emotionale Reaktionen auslösen. Wenn der schnelle Genuss von Junkfood gegen die subtilen, langfristigen Vorteile einer nährstoffreichen Ernährung antritt, gewinnt eine gesunde Ernährung selten die Oberhand. Dieses Kalkül tut der Impfung keinen Gefallen. Eine erfolgreiche Impfung zeichnet sich dadurch aus, dass man nicht krank wird – ein Nicht-Ereignis, das nur schwer wahrgenommen, geschweige denn als Belohnung gewertet werden kann.
Darüber hinaus leidet der Ruf der Impfung unter dem psychologischen Phänomen des Unterlassungseffekts (engl. Omission Bias). Die Menschen sehen den Schaden, der durch Handeln verursacht wird (z. B. die Nebenwirkungen einer Impfung), als schwerwiegender und bedeutsamer an als den Schaden, der durch Nichthandeln verursacht wird (z. B. krank zu werden, nachdem man nicht geimpft wurde).
Was bedeuten Impfungen für die Menschheit? Beweggründe sehr kulturspezifisch
Am schlimmsten ist vielleicht, dass Impfstoffe Opfer ihres eigenen Erfolgs werden können. Wenn die Impfquoten steigen, sinken die Erkrankungsraten. Generationen, die ohne den Kontakt mit Krankheiten wie Masern aufgewachsen sind, haben wenig Grund, deren Folgen zu fürchten. Wenn Fehlinformationen über die Risiken von Impfstoffen auf Unwissenheit über die Risiken von Krankheiten treffen, sinken die Impfquoten. Das heißt, bis zum nächsten Ausbruch. Im Jahr 2018 stieg die Masern-Impfquote in Rumänien wieder auf 81 Prozent für die vollen zwei Dosen an – ein Beispiel für eine Zunahme der Impfquote, die oftmals eintritt, wenn sichtbar wird, welche Folgen damit verbunden sind, ungeimpft zu sein.
Bei Personen, die am stärksten von der Impfgegnerschaft überzeugt sind, verstärkt die Richtigstellung von Mythen über Impfungen ihre Skepsis nur noch.
Doch hat die Impfablehnung nicht nur mit dem zu tun, was in unseren Köpfen vorgeht; sie steht auch in ständigem Austausch mit unserem sozialen und kulturellen Umfeld. Die Beweggründe für eine Impfung sind sehr kulturspezifisch. Viele wissenschaftsfeindliche Überzeugungen lassen sich am besten als das Produkt bestimmter Ursprünge von Einstellungen oder psychologischer Motivationen verstehen, die Menschen davon abhalten, ihre Meinung zu ändern, selbst wenn Gegenbeweise vorliegen. Bei Personen, die am stärksten von der Impfgegnerschaft überzeugt sind, verstärkt die Richtigstellung von Mythen über Impfungen ihre Skepsis nur noch.
Um die Impfzurückhaltung zu überwinden, müssen wir diese Wurzeln ausgraben und herausfinden, was die Impfung für die Menschen bedeutet – etwas, das sich nicht immer auf alle kulturellen Kontexte übertragen lässt.
Verschwörungsideologien bei Impfungen: Donald Trump und die Republikaner in den USA
In den Vereinigten Staaten zum Beispiel sind Impfgegner häufig von verschwörerischen Ideen überzeugt oder Anhänger der Republikaner*. Verschwörungstheorien sprechen die Anhänger aus vielen Gründen an – zum einen können sie dazu beitragen, dass sich Menschen intelligent fühlen, weil sie die Lügen der Gesellschaft durchschauen. Die Gründe, warum die politische Zugehörigkeit zu den Republikanern mit einer ablehnenden Haltung gegenüber Impfungen in Verbindung gebracht wird, sind komplexer, aber Äußerungen von einflussreichen Persönlichkeiten wie dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump*, der während seiner Amtszeit die COVID-19-Impfung befürwortete, aber sowohl vor als auch nach seiner Präsidentschaft Zweifel an Impfungen äußerte, haben dazu beigetragen, dass die Impfskepsis zu einer allgemeinen Überzeugung unter amerikanischen Konservativen wurde.
Unser Forschungsteam am Center for Advanced Hindsight der Duke University erforscht neuartige Lösungen, um die Akzeptanz von Impfstoffen zu erhöhen. Im Fall der Masernimpfung entschieden wir uns, uns auf den Selbstschutzaspekt von Verschwörungstheorien zu konzentrieren. Wenn der Glaube, in ein Geheimnis eingeweiht zu sein, konspirativen Denkern hilft, ihr Selbstwertgefühl als intelligente Menschen zu bestätigen, was passiert dann, wenn wir dieses Bedürfnis auf andere Weise befriedigen?
2019 baten wir 1087 schwangere Mütter aus den Vereinigten Staaten*, uns von einer Zeit zu erzählen, in der sie sich intelligent fühlten, von einer Zeit, in der sie sich als gute Eltern fühlten, von einer Zeit, in der sie sich als schlechte Eltern fühlten, oder eine nicht damit zusammenhängende Aufgabe fertigzustellen. Dann ließen wir sie einen überzeugenden Text lesen, der für die Masernimpfung spricht. Zuletzt fragten wir sie nach ihren Absichten, ihr zukünftiges Kind impfen zu lassen. Unser Hauptinteresse galt der Intelligenzabfrage, denn wir wollten sehen, ob wir unseren Teilnehmern eine Möglichkeit bieten können, ihr Selbstwertgefühl auf gesündere Weise zu bestätigen.
Die Antworten, die wir auf unsere Intelligenzabfrage erhielten, waren meist kleine Momente, die in ein oder zwei Sätzen ausgedrückt wurden. Frauen erzählten uns, wie sie sich schnell an neue Arbeitsplätze anpassten, Mathekurse oder Tests erfolgreich bestanden, Probleme für ihre Angehörigen lösten, Auseinandersetzungen mit Kollegen für sich entscheiden konnten, bei der Arbeit innovativ waren oder einen Vorgesetzten beeindruckten.
Corona-Impfungen: Auswirkungen verschiedener Pro-Impf-Botschaften auf die COVID-19-Impfabsichten
Doch trotz der Kürze der Antworten stimmten diejenigen, die geschrieben hatten, dass sie sich schlau fühlten, mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zu, dass sie ihr Kind impfen lassen würden. Und warum? Sie fanden den Pro-Impf-Text überzeugender als diejenigen, die über etwas anderes geschrieben hatten. Sobald ihr psychologisches Bedürfnis, sich intelligent zu fühlen, durch eine andere Quelle befriedigt wurde, konnten sie die Wissenschaft akzeptieren und die Impfung als Option in Betracht ziehen. Ihre zögerliche Haltung gegenüber Impfungen hatte nichts mit Unwissenheit zu tun, sondern damit, was eine Impfablehnung für jemanden in den Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet.
In jüngster Zeit hat unser Team seine Aufmerksamkeit auf die COVID-19-Impfung gerichtet. In diesem Frühjahr untersuchten wir die Auswirkungen verschiedener Pro-Impf-Botschaften auf die COVID-19-Impfabsichten, indem wir eine repräsentative Stichprobe von 1748 Personen aus dem Südosten der USA befragten. Wir zeigten unseren Teilnehmern eine von sechs verschiedenen Informationsstrategien, die von der Darstellung des Impfstoffs als Weg zurück in ein normales Leben bis hin zur Erläuterung des Testverfahrens der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel reichten, und fragten sie dann nach ihrer Einstellung zum COVID-19-Impfstoff.
Nur zwei unserer Ansätze haben dazu beigetragen, die Impfbereitschaft zu erhöhen. Die erste erfolgreiche Botschaft konzentrierte sich auf die Bekämpfung des Unterlassungseffekts, indem die Risiken einer Nichtimpfung als weitaus größer herausgestellt wurden als die Risiken einer Impfung. Die zweite erfolgreiche Botschaft war ein wenig ungewöhnlicher. Wir haben die COVID-19-Impfung als einen patriotischen Akt dargestellt – eine Möglichkeit für die Menschen, den Vereinigten Staaten dabei zu helfen, die Herausforderung von COVID-19 zu meistern.
Die Idee für diese Intervention entstand direkt aus der Überlegung, was in der US-Kultur eine ablehnende Haltung gegenüber der COVID-19-Impfung motiviert. Trumps historische Anti-Impf-Äußerungen und Bemerkungen nach seiner Präsidentschaft trugen dazu bei, ein Umfeld zu schaffen, in dem Impfbefürworter gleichbedeutend mit Anti-Republikanern sind – und in den Vereinigten Staaten ist die politische Parteizugehörigkeit stärker identitätsbestimmend als selbst Rasse oder Religion. Durch die Verknüpfung von Impfungen mit Patriotismus, einem weiteren hochgehaltenen Wert, konnten die Leser die unangenehme Spannung zwischen republikanischer Identität und Impfverhalten umgehen. Tatsächlich war unsere Botschaft zum Thema Patriotismus besonders bei den republikanischen Teilnehmern erfolgreich, sodass die Kluft zwischen den politischen Parteien fast verschwand.
Corona: Sozialwissenschaftler aus der ganzen Welt müssen zusammenarbeiten, um die Ursachen für die Impfzurückhaltung zu ermitteln
Aber was in den Vereinigten Staaten funktioniert hat, muss nicht unbedingt auch anderswo funktionieren. Der Unterlassungseffekt mag universell sein, doch sind andere Motivationsfaktoren, die hinter einer impfgegnerischen Haltung stehen, nicht von Land zu Land gleich.
So boykottierten beispielsweise 2003 mehrere überwiegend muslimische Staaten im Norden Nigerias den Polio-Impfstoff, weil sie befürchteten, dass er HIV verbreiten und Unfruchtbarkeit verursachen könnte. Diese Sorgen waren das Ergebnis vieler komplexer Faktoren, darunter die Furcht vor einem islamfeindlichen Kreuzzug der USA, der durch die Reaktion der Vereinigten Staaten auf den 11. September ausgelöst wurde, und die Erinnerung an die tödlichen Arzneimitteltests gegen Meningitis von Pfizer in Nigeria im Jahr 1996. Kano, der letzte nigerianische Staat, der den Boykott aufrechterhielt, hob ihn erst nach zehn Monaten auf, als er in Indonesien – einem überwiegend muslimischen Land – hergestellte Impfstoffe erhielt. Ein deutlicheres Beispiel für eine kultursensible Lösung kann es wohl nicht geben.
Ähnliches gilt für die COVID-19-Impfung. Sozialwissenschaftler aus der ganzen Welt müssen zusammenarbeiten, um die Ursachen für die Impfzurückhaltung zu ermitteln und zu verstehen, wie sich diese Faktoren in den verschiedenen Gemeinschaften auf nationaler und lokaler Ebene unterscheiden. Anschließend ist es uns möglich, über Information und Aufklärung hinauszugehen und die Brennpunkte des Zögerns ins Visier zu nehmen, indem wir entweder auf die psychologischen Bedürfnisse eingehen, die durch die Impfgegnerschaft befriedigt werden, oder indem wir die Impfung als Teil wichtiger kultureller Werte darstellen. Welchen Weg wir auch immer wählen, eines ist klar: Es wird uns nicht gelingen, uns und unsere Angehörigen vor COVID-19 zu schützen, solange wir die Impfskepsis nicht als emotionales, soziales und kulturelles Problem verstehen und entsprechend maßgeschneiderte Lösungen anwenden.
von Jenna Clark
Jenna Clark ist leitende Verhaltensforscherin am Center for Advanced Hindsight der Duke University, wo sie sich auf angewandte verhaltenswissenschaftliche Arbeit zur Förderung präventiven Gesundheitsverhaltens spezialisiert hat.
Dieser Artikel war zuerst am 18. Dezember 2021 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
