Zoff um Putin-Nähe: Estland steht vor Neuwahlen – welche Rolle spielt Russland dabei?

Estlands Koalition ist auseinandergebrochen. Premierministerin Katja Kallas hat die Zusammenarbeit mit der Zentrumspartei beendet – wegen der Nähe zu Russland.
Tallinn – Die estnische Regierung unter Premierministerin Kaja Kallas ist gescheitert. Erst Ende Januar 2021 wurde die Koalition zwischen der liberalen Reformpartei mit Kallas an der Spitze und der Zentrumspartei vereidigt. Sie entstand, nachdem die vorherige Regierungskoalition unter Führung der linksgerichteten Zentrumspartei auseinandergebrochen ist. Die Zentrumspartei koalierte damals mit den Konservativen und der rechten EKRE. Jetzt ist auch das neue Bündnis in Estland auseinandergefallen: Premierministerin Kallas hat Anfang Juni alle sieben Minister der Zentrumspartei entlassen.
„Estland braucht mehr denn je eine funktionierende Regierung auf der Grundlage gemeinsamer Werte“, sagte Kallas nach ihrer Entscheidung, die sie mit sicherheitspolitischen Bedenken begründete. „Die Sicherheitslage in Europa gibt mir als Premierminister keine Gelegenheit, die Zusammenarbeit mit der Zentrumspartei fortzusetzen.“
Estland in der Regierungskrise: Es knirschte schon vor dem Ukraine-Russland-Krieg in der Koalition
Die Zentrumspartei galt lange als die politische Partei, die bevorzugt von den russischsprachigen Esten gewählt wurde. Dazu gehörte auch die Zusammenarbeit mit der Partei Einiges Russland von Präsident Wladimir Putin. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar brach das Zentrum diese langjährige Zusammenarbeit ab.
Obwohl Kallas der Zentrumspartei in ihren offiziellen Stellungnahmen unterstellt, sicherheitspolitisch unzuverlässig und russlandfreundlich zu sein, geht es bei dem Koalitionsbruch eher um innenpolitische Hintergründe. Die Koalition zwischen der Zentrumspartei und der Reformpartei mit ihrer prominenten und außenpolitisch besonders erfolgreichen Premierministerin hatte schon seit mehreren Monaten Probleme.

Der Tiefpunkt wurde erreicht, als die Zentrumspartei gegen die Regierung und zusammen mit der rechten Partei EKRE bei Bildungsgesetzen und Familiengesetzen auftrat. Die Zentrumspartei hat sich mit der Opposition geeinigt, ein Gesetz zur Einführung von Familien- und Kindergeld anzunehmen. Diese neue Leistung würde eine zusätzliche Belastung für den estnischen Haushalt um 300 Millionen Euro pro Jahr bedeuten. Schließlich hat die Zentrumspartei am 1. Juni zusammen mit der neu-rechten Partei EKRE gegen ein Bildungsgesetz gestimmt, das die Regierung eingebracht hatte. Diese Abstimmung bracht den endgültigen Bruch in der Koalitionsregierung.
Ukraine-Russland-Krieg: Reformpartei strebt in Umfragen nach oben – Zentrumspartei im Sinkflug
Die Position der Reformpartei ist relativ stark, obwohl sie nicht selbstständig regieren könnte. Die Umfragewerte sind wegen der starken Außenpolitik der Premierministerin und der umfangreichen Hilfe für die Ukraine gut. Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs kletterte die Reformpartei von rund 23 Prozent auf 34 Prozent. Die Beliebtheit der Zentrumspartei sank dagegen von 20 Prozent auf 17 Prozent Ebenfalls leicht rückläufig sind die Umfragen der rechten EKRE, die bei rund 18-20 Prozent liegen.
Die Reformpartei hat aus dieser Position heraus also gute Aussichten, neue Koalitionspartner zu finden, mit denen die Zusammenarbeit besser verlaufen wird. Neuwahlen wären hingegen für die meisten Beteiligten außer der Reformpartei mit einem hohen Risiko verbunden. Kallas kündigte bereits an, Gespräche mit der konservativen Isamaa und den Sozialdemokraten aufnehmen zu wollen.
Regierungskrise: Wie könnte es weitergehen in Estland? Angestrebte Koalition mit Konfliktpotential
Die Estlandexpertin des Institute of Central Europe (IES) und Lehrkraft an der Katholischen Universität Lublin Johannes Paul II Aleksandra Kuczyńska-Zonik ist jedoch der Meinung, dass die von Kallas angestrebte Regierungskoalition viel Konfliktpotential in sich trägt. „Die Reformpartei könnte sich mit der Sozialdemokratischen Partei und der Isamaa durchaus verständigen, wobei es große programmatische Unterschiede zwischen diesen Parteien gibt“, sagte Kuczyńska-ZonikHelme Merkur.de von IPPEN.MEDIA. Auf der anderen Seite sind die Umfragewerte der Isamaa schlecht, deshalb wird ihr die öffentliche Präsenz besonders wichtig sein“, meint Kuczyńska-Zonik.
Nicht ganz ausgeschlossen werden, kann eine Wiederkehr der Koalition, die der Kallasregierung vorausgegangen ist. Die Zentrumspartei könnte erneut versuchen, zusammen mit der EKRE und der Isamaa eine Regierung zu bilden. Aber diese Konstellation hält Kuczyńska-Zonik für ausgesprochen schwierig. Die EKRE erkläre sich aber im Vorfeld zu Gesprächen bereit. „Ich bin offen für verschiedene Möglichkeiten“, meinte der Vorsitzende der Rechten, Martin Helme. „Es kann meines Erachtens durchaus dazu kommen, dass eine Minderheitsregierung an die Macht kommt oder Neuwahlen anberaumt werden“, sagte Helme.
Allerdings ist die EKRE ein völlig unzuverlässiger Partner, das hat die Zentrumspartei bereits vor 2021 bemerkt. Es wäre eine ausgesprochene Überraschung, wenn sich die Zentrumspartei wieder auf die Rechten einlassen würde. Eine Minderheitsregierung der Reformpartei wäre mit ihren 34 Sitzen von insgesamt 101 Sitzen im Riigikog wenig aussichtsreich. Die Opposition könnte dann versuchen, die Reformpartei zu isolieren. Das könnte bedeuten, dass ihre hohen Umfragewerte bis zu den Parlamentswahlen 2023 dahinschmelzen. Das ist ein Szenario, das von der Reformpartei kaum in Betracht gezogen werden kann. (Aleksandra Fedorska)