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„Völlig undenkbar“: Experte stellt bittere Corona-Prognose für Schweden - und attestiert „Blindheit“

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Von: Florian Naumann, Christian Domke Seidel, Andreas Schmid

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Es ist ein neuer Höchstwert an Neuinfektionen: Die Corona-Lage in Schweden spitzt sich immer weiter zu. Ein Experte äußerte nun deftige Kritik.

Update vom 19. Juni, 9.55 Uhr: In Deutschland tobte vor einigen Wochen der „Virologen-Streit“. Alleine steht die Bundesrepublik damit aber nicht da. In Schweden hat ein Experte nun bereits die betont lockere Coronavirus-Strategie des Staatsepidemiologen Anders Tegnell als Irrweg abgeurteilt - und indirekt sogar als unreife Entscheidung.

Björn Olsen, Professor für Infektionskrankheiten, verwies nun die Einschätzung, auf lange Sicht könnten Schweden und seine skandinavischen Nachbarländer bei ähnlichen Opferzahlen herauskommen, ins Reich der Fabel. „Sie werden einige einzelne Fälle haben. Aber sie werden nicht Schweden einholen, wenn es um die Zahl der Toten geht. Das ist völlig undenkbar“, sagte Olsen der Boulevard-Zeitung Expressen.

Schweden beweise „Blind- und Taubheit in den Analysen seiner Umwelt“, erklärte der an der Universität Uppsala tätige Mediziner. Besser habe es etwa das Nachbarland Finnland gemacht. „Finnland ist ein Schweden für Erwachsene“, ätzte der Experte.

Corona in Schweden: Erschreckende Todes-Statistik in Altenheimen -  Streit um Mundschutz

Update vom 19. Juni, 21.45 Uhr: Schweden gehört zu den am stärksten betroffenen europäischen Ländern in der Corona-Pandemie. Recherchen des TV-Senders SVT weisen nun auf eine erschreckende Statistik hin: Den Daten zufolge hat sich in rund 40 schwedischen Altersheimen die Sterblichkeitsrate von Mitte März bis Ende Mai im Vergleich mit anderen Jahren verdoppelt - betroffen sind Einrichtungen in den Großstädten Stockholm und Göteborg, aber auch in kleineren Städten wie Borlänge und Gävle.

Bei der Suche nach den Gründen tappen die Verantwortlichen dem Bericht zufolge offenbar weitgehend im Dunkeln. Genannt wurden von Einrichtungsleitern aber mangelnde Corona-Tests und die Möglichkeit, dass Mitarbeiter aufgrund mangelnder Kenntnis über Corona-Symptome* erkrankt ihrer Arbeit nachgingen.

Zugleich wirft ein weiterer Bericht des TV-Kanals ein schlechtes Licht auf die Arbeit mehrerer Behörden: Womöglich gab die für Arbeitssicherheit zuständige Stelle Druck nach, in Übereinstimmung mit den lockereren Bestimmungen der Gesundheitsbehörde keine Mundschutzpflicht zu erlassen - trotz Mahnungen eigener Experten. Die zuständige Generaldirektorin Erna Zelmin-Ekenhem wies diese Darstellung auf Anfrage des Senders zurück.

Corona in Schweden: „Unkontrollierte Ausbreitung“ - Stadt in „ernster Lage“, Regierung verteidigt Kurs

Update vom 17. Juni, 14.40 Uhr: Lange hatte Schweden bewusst auf einen staatlich verordneten Corona-Lockdown verzichtet. Nun könnte das nordeuropäische Land zumindest örtlich doch zum Durchgreifen gezwungen sein: Ausgerechnet nördlich des Polarkreises, in Gällivare (Lappland), ist die Lage offenbar außer Kontrolle geraten.

„Wir haben jetzt eine unkontrollierte und für die Gesellschaft gefährliche Ausbreitung von Covid-19 in der Kommune“, teilte der 10.000-Einwohner-Ort laut dem Fernsehsender SVT mit. „Wir sind auf dem Weg in eine sehr ernste Lage“, erklärte der Sprecher des örtlichen Krisenstabes, Stefan Nieminen dem Bericht zufolge. Freizeit- und Kulturanlagen werden geschlossen, der öffentliche Nahverkehr in die Stadt soll eingestellt werden. Weiter Maßnahmen könnten bei einem Krisentreffen am Nachmittag getroffen werden.

Ein Hauptproblem sind hier offenbar Altenheime. In einigen Einrichtungen befänden sich 70 Prozent der Pflegekräfte im Krankenstand, meldete SVT. „Wir können keinen kompletten Lockdown der Gesellschaft verhängen“, erklärte Nieminen: „Wir können nur alle Partner ersuchen, ihre Verantwortung zu übernehmen. Jetzt ist es ernst.“

Corona-Lage in Schweden teils dramatisch: Ministerpräsident verteidigt Kurs

Allgemein gelten in Schweden mittlerweile eine Höchstgrenze von 50 Personen für Versammlungen sowie ein Besuchsverbot in Altenheimen. Ministerpräsident Stefan Löfven verteidigte in einem Interview mit der Zeitung Expressen am Mittwoch dennoch den schwedischen Kurs.

„Leider sterben zu viele Menschen in unseren Altenheimen“, erklärte der Sozialdemokrat. „Das hat nichts damit zu tun, dass wir die falsche Strategie gewählt hätten“ - der Effekt sei Folge der Tatsache, dass die Altenpflege nicht gut genug funktioniere. Schweden habe nicht die höchsten Todeszahlen - untersucht werden müsse aber: „Warum gibt es Unterschiede zwischen Schweden und den anderen nordischen Ländern? Warum gibt es Unterschiede zwischen Deutschland und Belgien?“ Diese wichtige Erkenntnis liege noch nicht vor.

Löfven hielt seinem teils heftig umstrittenen Chef-Epidemiologen Anders Tegnell zumindest implizit die Stange. Mit Blick auf wesentliche striktere Maßnahmen der Bundesregierung in der Vergangenheit erklärte er: „Ich werde mich nicht in die Frage einmischen, wie die Experten in Deutschland beziehungsweise Schweden denken. Ich kann nicht über die Unterschiede in deren Analysen urteilen, das müssen sie selbst diskutieren.“ 

Corona: Deutlicher Anstieg der Zahlen in Schweden - Europa-Vergleich zeigt extreme Entwicklung

Update vom 17. Juni, 9.46 Uhr: Die Lage in Schweden ist weiterhin prekär. Das skandinavische Land ist Europas Hotspot in puncto Corona-Infektionen geworden. Es gibt zwar weiterhin einige europäische Länder, die insgesamt mehr Infektionen aufweisen, doch der Trend spricht klar gegen Schweden

Während etwa in Spanien, Italien, Frankreich oder auch Deutschland die Infektionszahlen kontinuierlich zurückgehen, schlägt die Statistik in Schweden ins andere Extrem um. Immer mehr Menschen stecken sich mit dem Coronavirus an. Der Schweden-Europa-Vergleich spricht eine deutliche Sprache. 

In den letzten zwei Wochen gab es in Schweden laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) 14.569 neue Coronainfektionen. Das sind mehr als im gleichen Zeitraum in Deutschland, Italien, Österreich, der Schweiz, Dänemark, Finnland, Norwegen, Island, den Niederlanden, Irland, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Kroatien und Griechenland zusammen. Diese 19 europäischen Staaten kommen auf insgesamt 14.447 neue Covid-19 Fälle.

Corona in Schweden: Nur in Russland mehr Fälle - Lage im Land spitzt sich zu

Update vom 13. Juni, 10.20 Uhr: Mit 1.474 Neuinfektionen innerhalb von nur 24 Stunden befindet sich Schweden hinsichtlich der Corona-Krise aktuell - mit Ausnahme von Russland - an der Spitze der Neuinfektionen in ganz Europa. Das geht aus einem aktuellen Tagesbericht vom 12. Juni der WHO hervor.

Verglichen mit anderen Ländern im Westen Europas haben sich damit an einem Tag in Schweden mehr Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert als in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien zusammen. Dass es sich bei den aktuellen Zahlen um einen äußerst hohen Anstieg handelt, zeigt sich dabei besonders unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl Schwedens, die bei rund zehn Millionen liegt. Noch am Vortag lag die Zahl der Neuinfezierten im Land noch bei 890 Fällen, die Tendenz ist also steigend. Damit dürfte das Land mittlerweile einen neuen Corona-Hotspot in Europa darstellen.

Unsere Erstmeldung vom 12. Juni: Schweden meldet dramatischen Anstieg - Kritik an Sonderweg wächst

Schweden - Kaum Verbote, nur wenige Empfehlungen. Schweden ging im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie den Sonderweg von Staatsvirologen Anders Tegnell. Dieser „schwedische Weg“ könnte sich nun als Fehler herausstellen. Die schwedische Gesundheitsbehörde meldete für Donnerstag, 11. Juni, 1.474 Neuinfektionen innerhalb von nur 24 Stunden. Ein drastischer Anstieg.

Coronavirus in Schweden: Höchstzahl an Neuinfektionen - „schwedischer Weg“ in der Kritik 

Der „schwedische Weg“ war für manch Kritiker drastischer deutscher Lockdown-Maßnahmen das wichtigste Argument, um die Beschränkungen so schnell wie möglich wieder abzuschaffen. Das Land führte nach dem Ausbruch des Coronavirus* nur zwei echte Verbote ein. So sind Veranstaltungen mit mehr als 50 Menschen und Altersheim-Besuche verboten. Bei allen anderen Vorkehrungen handelt es sich nur um Empfehlungen.

Jetzt muss Schweden mit der höchsten Zahl an Neuinfizierten seit Ausbruch der Pandemie kämpfen. Innerhalb eines Tages hat die schwedische Gesundheitsbehörde 1.474 Menschen mit Neuinfektion melden müssen.

Stefan Löfven steht vor einer schwedischen Flagge.
Der Rückhalt von Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven in der Bevölkerung schwindet. © Maxim Thore/dpa/picture alliance

Coronavirus: Schweden weitet Testkapazitäten aus - Neuinfektionen mit milden Symptomen 

Trotzdem wiegelt sie ab. Die hohe Zahl sei eine „direkte Konsequenz vermehrter Tests“. Auch Personen mit eher milden Symptomen seien so in die Statistik mit eingeflossen. Den Ausbau der Testmöglichkeiten hatte Harriet Wallberg, Medizinprofessorin und Testkoordinatorin der Regierung, dringend gefordert. Sie sagte dem schwedischen Sender TV4: „Wir liegen immer noch auf hohem Niveau,  was Infizierte und Tote angeht. Die Zahlen müssen runter. Dazu müssen wir breit testen, und zwar alle mit Symptomen.“

Das Problem: Wallberg gab das Amt nach nur drei Wochen wieder ab, wie die Tagesschau berichtet. Schweden hat mittlerweile 4.814 Todesfälle zu beklagen hat. Mehr als jedes seiner Nachbarländer.

Die Infektionen könnten auch direkte Auswirkungen auf Deutschland haben. Eigentlich hätten am kommenden Montag, 15. Juni, die Reisewarnung* aufgehoben werden sollen. Doch Schweden erfüllt jetzt nicht mehr die Pandemiekriterien – so liegt die Zahl der Neuinfektionen über 50 pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage.

Schwedens Krise in Coronavirus-Pandemie: Rückhalt für Regierung schwindet, Bevölkerung unzufrieden

Auch in der eigenen Bevölkerung schwindet die Unterstützung für die schwedische Regierung langsam. So meldete SVT, der öffentliche Sender Schwedens, bereits vergangene Woche: „Das Vertrauen in die Regierung und die Gesundheitsbehörde ist eingebrochen. Der Anteil derer mit großem oder relativ großem Vertrauen in die Corona-Maßnahmen ist um rund 20 Prozentpunkte gesunken. Gründe dafür könnten die hohe Zahl von Toten vor allem unter Älteren sein sowie mangelnde Information über den Verbreitungsgrad von Corona.“

Unterstützen noch im April rund 63 Prozent der Befragten den „schwedischen Weg“ der zurückhaltenden Maßnahmen, sind es aktuell nur noch etwa 45 Prozent, laut SVT. Wie die Tagesschau berichtet versprach Stefan Löfven, Schwedens Ministerpräsident, für den Sommer eine Untersuchungskommission, die sich mit dem „schwedischen Weg“ kritisch auseinandersetzen soll.

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